folgenreiches Tun

Samstag, 5. September 2015

*Man kann der Gesellschaft alles aufdringen, nur nicht, was eine Folge hat
(Goethe *Wahlverwandtschaften*). 
 
Wie auf Knopfdruck reden auf einen Schlag alle über die Flüchtlingsthematik. Das mediale Interesse (Stern) könnte nicht größer sein. Und im besten Fall reagieren die Menschen in einer wachsenden, wohltuenden Welle der Solidarität. Immer wenn so eine Art Massenphänomen in Gang kommt, dann staune ich, wie gut Presse funktionieren kann. Könnte. Denn wie sich die Wege der Elenden und Gebeutelten Richtung Europa bahnen, das wissen wir nicht seit gestern (Artikel von 2013). Nach Monaten, Jahren überleben viele Flüchtlinge, mehr als zuvor, nun die gefährliche Reise bis zu unseren Grenzen (Griechenland und Italien beharrlich ignorierend). Und wir sind *überrascht*. Und nicht *vorbereitet*. Wo war unsere Aufmerksamkeit dafür all die Zeit davor?

Zumal uns allen wohl klar ist, dass die momentane Situation mehr verlangt, als im Keller nachzusehen, was man denn so übrig hat und spenden könnte (ohne solchen Aktionismus schmälern zu wollen - das ist ein guter Anfang). Diese Menschen suchen eine Existenz. Eine neue Heimat. Eine Bleibe. Hoffen auf Chancengleichheit. Und darauf, ihren Kindern eine bessere Zukunft bieten zu können. Vielleicht träumen sie von Eigentum, einem Haus, einem eigenen Auto. Auf jeden Fall wollen sie ebenfalls - wie alle, die im Kapitalismus leben - teilnehmen können am Konsum. Verständlicherweise. Soziale Gerechtigkeit als Grundpfeiler gesellschaftlichen Friedens bekommt eine gute Gelegenheit, neu aufgestellt zu werden.

Dann erst wird unsere Gesellschaft richtig gefordert sein in ihrer Fähigkeit zur Toleranz. Sind wir dem Fremden aufgeschlossen genug, dass neben uns Menschen Platz finden werden, ihre eigenen kulturellen Werte zu leben. Selbst dann, wenn sie sich von den unseren unterscheiden? Erkennen wir die Chance, unsere eigene Gesellschaft dadurch neu beleuchten zu können? Sind wir bereit, einige Themen neu zu verhandeln, von denen wir dachten, es handle sich um Selbstverständlichkeiten? Gehört der Islam nun endlich auch zu Deutschland - ohne Vorbehalte.

Ob der aktuellen Geschehnisse möchte ich mir manchmal Augen und Ohren zuhalten. Schwere Steine legen sich auf Brust und Gedanken. Kann Politik mehr ihr Versagen demonstrieren? Europa schreibt schwarze Geschichte - diese Bilder werden um die Welt gehen. Und die Strahlkraft dieser Bilder verlieren ihre Wirkung nicht. Es wird das Ansehen von uns Europäern nachhaltig verändern.

Wir können nicht weiter so tun, als ob wir unbeteiligt daran wären, dass so viele Menschen ihr zuhause verlassen müssen und ihre Lebensgrundlage verloren haben. Oder gibt es noch Illusionisten, die glauben, dass die Ausbeutung vieler Länder, die Kriege mit unserer Beteiligung (ob militärisch oder als Waffenexport) konsequenzlos blieben. Für uns.

*Das eben ist der Fluch der bösen Tat, daß sie, fortzeugend, immer Böses muß gebären* (Schiller). Der Buddhismus kennt dafür zumindest das Wort des Karma. Jedes Tun, jedes Handeln birgt eine Konsequenz. Der Bumerang fliegt nun mal zurück. Phänomenalerweise auch im Weltraum. Ich glaube, was uns gerade ebenfalls beunruhigt und Angst macht, ist die Ahnung, dass unser Bumerang nun zurückkommt.

Allerdings hätten wir - hier und jetzt - die Möglichkeit, wieder etwas gut zu machen. Und ich hoffe von ganzem Herzen, dass die momentan gezeigte Solidarität nicht zu den Eintagsfliegen zählt, sondern uns trägt in eine neue Gesellschaftsform des friedlichen Miteinanders. Und ich wünsche mir, dass wir zurückfinden zu mehr Menschlichkeit. Menschlichkeit, die mit dem Turbokapitalismus, in dem wir leben, verloren zu gehen droht. Dafür müssen wir Grundlegendes hinterfragen: unser Denken.


Wenn unsere Vorstellung von der Wirklichkeit sich ändert, ändert sich dann auch die Wirklichkeit? (Michael Ende)

So wie sie momentan ist, kann sie wohl unmöglich bleiben... 
 ... mehr Himmelsbilder wie üblich bei Katja...

14 Kommentare

  1. Du sprichst mir aus dem Herzen!

    Viele liebe Grüße,
    Sarah =)

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  2. Sehr auf den Punkt gebracht, danke!
    Sibylle

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  3. Wahre Worte - ich sehe dem allen nicht unbedingt so positiv entgegen, denn es gibt so unglaublich viele dumme und hasserfüllte Menschen (sorry) und die Politik sowie die Wirtschaft läuft weiter in ihrer geölten Maschinerie nach Geld und Gier - aber die Hoffnung darf man nicht aufgeben, oder? Die eigentlichen Folgen wird wohl die kommende Generation tragen - und die wird sich noch schwerer tun als wir, da dort bestimmt 70 Prozent der jungen Menschen das "Denken" aufgegeben hat.
    HG
    Birgit,

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  4. Liebe Micha,

    Da ich nicht so gut schreiben kann wie du, aber in dieser Sache genauso denke und fühle wie du, kann ich dir nur für deine deutlichen Worte danken.
    Liebe Grüße
    Eva

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  5. Ich bin absolut deiner Meinung, aber zu Birgits Kommentar kann nur sagen, dass in unserem Freundeskreis viele junge Menschen sich nicht nur im Denken sehr kritisch mit der Problematik auseinandersetzen, sondern sich auch aktiv beteiligen. Warum wird immer die Jugend kritisiert? Leider gibt es in jeder Generation "dumme und hasserfüllte Menschen".

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  6. Dieser Kommentar wurde vom Autor entfernt.

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  7. "Jedes Tun, jedes Handeln birgt eine Konsequenz." Ja. Und ich glaube auch, dass es nicht ein paar tausend Flüchtlinge sind, die viele Menschen in den westlichen EU-Staaten in Panik und Abwehr ausbrechen lassen, sondern dass es die Ahnung dieses Bumernags ist, der jetzt zu uns zurückfliegt.
    Jeder muss würgen, wenn Obama sich in all seinem Zynismus hinstellt und sagt, das Flüchtlingsproblem gehe nur Europa an, weil alle sich die Folgen der von den USA angezettelten "Inverentionskriege" im Nahen Osten und deren übrigbleibende Destabilisierung nach Vernichtung der Machthaber zusammenrechnen können. Aber auf den eigenen Anteil schaut man ungern. Auf die profitablen Waffenlieferungen Deutschlands in den Nahen Osten und nach Afrika, die Kriege dort erst ermöglichen, auf die Etiketten seiner Billigkleidung aus Pakistan und Bangladesh. Das ist ähnlich wie das Verschließen der Augen vor dem Tierleid, wenn man Billigfleisch konsumiert und lässt mich an Parabel "Die Farm der Tiere" denken - nur das die Folgen dieses Mal keien Fiktion, weitreichender uns spürbarer sind.
    Die Globalisierung und weltweite Vernetzung macht den Reichtum der Ausbeuterländer für den armen und destabilisierten Teil der Welt über das WWW zugänglich. Wo die meisten früher nicht wussten, dass es auch anders geht als arm, sehen sie es jetzt in bunten Bildern. Und natürlich wollen sie das auch - für sich, für ihre Kinder - und machen sich deshalb auf den Weg. Ja, der Bumerang kommt zurück.
    Gibt es dafür eine schnelle Lösung? Ist das Spenden von Sachen, die Unterbringung in Zelten die Lösung? Es hilft kurzfristig, aber es ist keine Dauerlösung. Es werden mehr und mehr kommen. Sollen wir eine Grenzmauer um Europa errichten? Das will wohl keiner. Alle Länder, die seit Jahrhunderten vom Armutsgefälle profitieren, müssen in gleichem Maße dafür zur Verantwortung gezogen werden, jetzt akut Flüchtlinge aufnehmen und langfristig verpflichtet werden, ihnen eine Zukunft im eigenen Land zu ermöglichen - durch Unterstützung der Herkunftsländer mit fairem Handel und auch durch gute Ausbildung der Kinder, um diesen Ländern wieder eine Perspektive zu geben.

    Herzlich, Katja

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    1. danke für die kombination aus euren gescheiten gedanken, liebe micha und liebe katja. ich bin voll und ganz bei euch.

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    2. Vielen Dank, Katja, fürs Verstehen, Mit- und Weiterdenken! Es tut mir gut, dich als Gegenüber zu wissen, als Schwester im Geiste. Danke für Deine ergänzende Fortführung!

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  8. Die Bilder welche um die Welt gehen sind unter anderem die aus Heidenau in Sachsen....ich wohne in der Heidenauer Straße in Dresden.... nur ein paar Kilometer entfernt der schlimmen Bilder.... bin erschrocken, traurig, wütend ob der tumben Gewalt...doch, es wird wieder Licht in der Seele bei dem Gedanken daran, dass "wir Anderen" viiiieel mehr sind.... ein paar Hundert werfen Steine, verletzen mit Worten ....ein paar Tausend waren zum Willkommen ein paar Tage später da.... wie viele Menschen helfen mit kleinen und großen Gesten und Taten, das zählt keiner so recht, aber es sind viele, wirklich viele.....das mache ich mir jeden Tag bewußt... und das tut dann wieder gut... läßt Hoffnung dafür da, dass wir die Herausforderung schaffen können
    Rosa

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  9. Wahr Worte! Großartig geschrieben. Respekt!

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  10. Groß-artig, Tief-sinnig, wie lernt man nur so eine Tiefe?? Micha, wer bist Du ??
    Dr. Keller

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  11. Ich bin sehr beeindruckt wie du immer wieder die richtigen Worte findest, Micha.

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