ausgeflogen - zugezogen - fortgezogen

Freitag, 9. September 2016


Neben meiner Tätigkeit als AFBlerin bin ich außerdem als Guerilla für das Landleben unterwegs. Unterschwellig schreibe ich immer wieder darüber, wie es ist an einem Ort zu leben, wo Pokémon-Spieler als reines Medien-Phänomen gelten.

*Zugezogen* - mit dieser Event-Frage von Friederike von LandLebenBlog hole ich nun zum Rundumschlag meiner Lebensgeschichte aus. Also nahezu... Hinter mir liegt ein U-Turn: Vom Land in die Stadt aufs Land.


Pupertät auf dem Land - das war mein persönliches Alcatraz. Mit dem Bus eine halbe Stunde bis zur nächsten Kleinstadt, der letzte, der abends um 9 zurück nach Hause fuhr - das wünscht man keinem Pickel-Träger. Für mich war Dorf zu der Zeit etwas für Menschen, die Hobbys haben, wie einfahrende Züge zu fotographieren oder startende Flugzeuge. Oder eben im Kleintierzüchterverein Hasen züchten oder im Musikverein Tuba spielen. 

Ich aber, ich wollte dorthin, wo das Leben tobt, an den Ort, wo an Schlaf nicht zu denken ist, in das (Epi)Zentrum von Kultur, Kommerz und Kunst. Naja, es wurde die nächste Großstadt Karlsruhe, bei der man (ich muß es nicht einfügen) das Groß ruhig streichen darf. Aber es reichte, die Nacht zum Tage zu machen. Und exakt darum ging es. Offiziell zog ich natürlich wegen Bildung und Studium in die Stadt, inoffiziell aber zum Feiern: ich wollte Rausch, ich wollte tanzen, ich wollte Abenteuer. Und ich bekam auch von dem kleinen Karlsruhe, was ich wollte. Ohne meine Ausbildung mit der Einstellung wirklich zu gefährden. Bis die erste, große Liebe zerbrach. Ein Einbruch, Umbruch, ein Umdenken. Vorallem weil der Ablenker von dieser Miesere, der nächste Freund, mich immer wieder in das Familien-Ferienhaus mitten im Wald entführte. 

Dort aufzuwachen, innerlich ständig irgendwie aufgeraut, mit nackigen Füßen durchs Gras zu den Pferden zu laufen - ein Durchschnaufen, das alte Sehnsüchte wachkitzelte, verbunden mit dem Wunsch, wieder aufs Land zurückzuziehen. Niemals nie, also wirklich niemals nie zurück ins Heimatdorf. Das hatte ich beim ersten Mal bewußt für immer verlassen...

Bis, maktub, die Begegnung meines Lebens sich zur Liebe wandelte. Zu dem Habib in das glizzekleine Gigors mit der Traumaussicht zu ziehen, das war die beste Entscheidung meines Lebens (sofern man bei Schicksal über Beschluß reden kann). Für mich war es gar der große Schritt Richtung Gesundheit. Ich hörte mit dem Rauchen auf, mit dem Trinken, dem Nachtleben und nach und nach mit meiner inneren Nervosität. Mein Leben hätte sich überhaupt nicht mehr wandeln können. Leichterdings liese sich ein Buch füllen, warum in, mit und von der Natur leben, mir wohl tut (Stille, Gartenküche, Selbstversorgertum, nackige Sommerfüße, saubere Luft, Sternenhimmel, Slomo...) . 

Ebenso leicht wäre es, hier nun Grabenkämpfe zu eröffnen zwischen Städter und Dörfler. Laut Hauptmann wohnten für die damalige Landbevölkerung in der Stadt eh nur *unnütze Fresser und Faulenzer*. Zieht man noch Georg Simmels kritische Auseinandersetzung mit der Großstadt dazu, liese sich daraus ein waschechtes Scharmützel eröffnen.


Aber an der Stelle kann ich mit schöner Fairness der Verhältnisse abwiegeln: es wohnen auf dem Land genauso viel Vollhonks wie in der Stadt. Allerdings in aller Regel weniger inkognito. Denn jedes Dorf beheimatet mindestens einen Haushalt, dessen Interesse weit über die Grenzen seines eigenen Gartenzauns in das Leben seiner Nachbarn reicht (Ausgangspunkt des arabischen Telefons). Außerdem kenne ich nun wirklich niemanden, der wegen der Landbevölkerung aufs Land gezogen wäre. Es ist die Natur, die anzieht. Die Landschaft. Die Weite. Der Platz.

Nimmt man als Gleichnis für das Gemüt einen See, dann hat man auf dem Land die Chance, jeden noch so kleinen Kieselstein mitzubekommen, der Wellen verursacht. In der Stadt hingegen scheint die Seeoberfläche permanent in Bewegung durch all die windigen Eindrücke, die darüber streichen. Daher würde ich als wesentlichen Unterschied nennen, dass man auf dem Land die Möglichkeit hat, sich selbst näher zu kommen, sich selbst näher kennenzulernen. Ob das nun als Vorteil oder Nachteil zu werten ist, darf jeder selbst entscheiden.



Wem der Kontakt mit anderen Menschen fehlt - Stichwort *Aufnahme in die Gemeinschaft* - dem darf ich verraten, dass einem so gut wie nie die Haltung entgegen schlägt: *Du hast uns gerade noch gefehlt*. Auch da gleichen sich Stadt und Land sehr. Wer nicht darauf warten kann, dass natürliche Gesetze greifen wie Anziehung, dem empfehle ich tatsächlich das Vereinsleben. Wer in die freiwillige Feuerwehr oder zum Sport geht, sich einer Assoziation anschließt oder gerne im Chor singt - voilà, durchaus ein Beschleuniger. Aber lernt man in der Stadt nicht auch vorallem dann Menschen näher kennen, wenn man sie regelmäßig bei einer gemeinsamen Beschäftigung sieht?

Schön eigentlich, dass ich dabei bemerke, dass ich bei diesem Thema überhaupt nicht streifen muß, dass wir in Frankreich leben. (Diese ganze Nationalitäten-Rauferei ist für mich eh sowas von rückständig). Fürs Outback-total, wie unser eins, gilt man bereits als Fremder, wenn man vom Nachbardorf hierher zieht. Wobei die alteingesessene Dorfbevölkerung, die, die ihr Dorf nie verlassen hat, am Aussterben ist - vielmehr bestehen die Dörfer um uns herum zunehmend aus einem Gemisch von verschiedenem Generationen, Nationalitäten, Ferienwohnungenbesitzer uswusf... Zeichen der Zeit eben und besser so. Denn wer sein Geburtsort nie verlassen hat, der läuft mit Brett vorm Kopf spazieren.


Typisch für das Landleben: man hat längere Wege und braucht ein Auto. Ohne gehts nich. Und ein auffallend weiterer Unterschied zur Stadt: Äußerlichkeiten spielen eine bedeutend geringere Rolle. Ein Fleck auf der Hose, ein Bad-Hair-Day - ein ganz normaler Tag also. Dabei finden sich immer und überall ein paar Minütchen zum Plaudern. Wer gestresst ist, fällt unangenehm auf.

Manchmal wünsche ich mir einen Streichelzoo um uns, denn mit Tieren zusammen zu leben, ist ein absolutes Landpuls. Darauf verzichten wir zugunsten unserer Winterreisen. Manchmal verwünsche ich meinen Coiffeur, und bin mir gewiß, der Maître, der mir die Friese meines Lebens verpassen könnte, sitzt irgendwo in einer Großstadt. Manchmal erinnere ich mich, wie mir ein Fahrrad als Fortbewegungsmittel ausgereicht hat. Oder wie eingesperrt ich mich im Sommer fühlte in meiner Stadtwohnung. Oder wie es ist, in ein Menschengetümmel zu geraten. Oder wie ich versuchte, der ständigen Geräuschkulisse mit viel Musikhören entgegenzuwirken.
 

Für mich bleibt es eine der elementaren Grundsatzfrage für das eigene Leben: Wohne ich auf dem Land und besuche ab und zu die Stadt  (zum Bummeln, Kino, Konzert...) oder umgekehrt, lebe ich in der Stadt und besuche ab und an das Land (wandern, Pichnick...). Damit entscheide ich mich automatisch für eine Umgebung, die mich entweder mehr natürlich oder mehr künstlich beeinflußt. Und das muß jeder für sich selbst wissen. Ich für mich weiß, was ich bevorzuge und warum.


*Anmerkung m: bereits mein 2.Event von Friederike bei dem ich teilnehme, fototechnische Schleichwerbung für unseren Dauerstart in den Tag und die perfekte Pasta für die ersten reifen Feigen...

16 Kommentare

  1. Ach, Micha! Für so ein Refugium wie Eures gäbe ich gerade ganz, ganz viel! Die Pläne, das eigene (, vorläufige) dahingehend zu optimieren gibt es, sie harren auch nur ein wenig Equipments, das sogar heute hier auflaufen wird. Dieses Gefühl aber, an einem Ort, in einer Umgebung, einem Leben wirklich und wahrhaftig angekommen zu sein... unbezahlbar! Danke für die Erinnerung, dass sich die Offenheit dafür lohnt!

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    1. Heimat im Herzen und der Natur - und schon auch für diesen Ort hier - doch, das ist schon was. Wenn im Leben nur nicht alles so fragil wäre und man eben weiß, dass nichts bleibt, wie es ist...

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  2. Luoghi meravigliosi e ricette davvero belle! grazie :-)

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  3. Fasziniert und innerlich berührt habe ich in Ruhe und Musse deinen persönlichen Post gelesen. Bestimmt trägt mein derzeitiges Domizil in Thailand, weit ab vom Grossstadtrummel inkl. Gehabe, das Seinige mit dazu bei, dass ich deine Gedanken und Anmerkungen noch besser verstehe.
    Ich hatte die Gelegenheit die verschiedenen Facetten des Lebens zu erleben, beruflich und privat. Mit Hoch's und Tief's und mit wirklich allem was dazu gehört.
    Heute bin ich überzeugt, dass weniger bedeutend mehr ist, bin glücklich mich vom "noch höher und weiter" verabschiedet zu haben und geniesse meinen dritten Lebensabschnitt mit ausgesuchten, echten Freunden, der Natur und das an jedem einzelnen Tag ! Und ausgesuchten/bestimmten Rezeptideen von dir :-)

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    1. Ist es nicht oft der Vergleich, der einem hilft, Dinge einzusortieren, oder Erkenntnis für sich zu gewinnen. Ich wollte meine Stadtzeit auf keinen Fall missen. Aber bin froh, dass sich dieser Epoche die Landzeit anschließt. Ja, vermutlich ist es leichter, empathisch zu sein, wenn man ähnliche Erfahrungen gemacht hat. Hochs und Tiefs dürfte nun jeder kennen ;)! Vielen Dank für deinen freundlichen Kommentar!

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  4. Micha, ich kann nichts dafür, ich lese Dich einfach gerne :-)
    Und das Bild mit den tanzenden Wolken - superb!
    Liebe Grüsse aus Zürich,
    Andy

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    1. Das freut mich, wenn ich dich erfreuen kann :)
      sonnige Grüße zurück nach Zürich...

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  5. Nur zu gern würde ich mich auch auf's Land flüchten, allein der schnöde Mammon hält uns noch in der Stadt. Aber wer weiß...

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    1. Tja, Geldverdienen ist in der Stadt einfacher - allerdings auch das Ausgeben desselben ;)...

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  6. Ja das bodenständige naturverbundene Leben bedeutet auch für mich Erdung und Freiraum und Lebensqualität und Durchatmen, und oft vermisse ich das hier in der großen Stadt, dann helfen "Auszeiten" in der Natur zum Auftanken... Es ist schön, dass du deinen Ort gefunden hast.

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    1. Mich bringt die Stadt mittlerweile tatsächlich leicht aus meinem Lot. Es ist zuviel von allem und zuwenig Natur für mich. Wie hat ein befreundetes Stadtmädchen mal gut formuliert: Hier in der Stadt geht meine Hauptenergie darauf, mich vor vielen Eindrücken und Einflüssen zu schützen und abzugrenzen, die ich nicht in meiner Nähe haben will. Diese Energie steht dir auf dem Land zur Verfügung. Es ist leichter, aufzumachen, weil das Selektieren nich sonderlich aufwendig ist...

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  7. Ich bin in eienr Kleinstadt aufgewachsen, von dort in eine mittlere Stadt umgezogen und dann in eine kleine Großstadt. Als Teenager fand ich es auch schlimm, dass alle Freunde und Lokations nur durch lange Busreisen zu erreichen waren. Diese Erinnerung lässt mich heute immer wiedre zögern beim Entschluss aufs Land zu ziehen - schließlich habe ich einen Fastteenager zuahuse, der das dann sicherlich ähnlich empfinden würde. Und möchte ich, dass er dann bald von mir und dem Land wegflieht? Schwierig.
    Ich finde, die Stille und Reduktion auf dem Land - von Konsum, Zeitdruck und Dingen - führt wirklich dazu, dass man sich selbst besser hören und spüren kann. Mich erleichtert das immer ungemein, das Rauschen wird endlich leiser udn cih weiß, dass ich noch da bin. Ich kenne aber auch menschen, die das nicht aushalten können. Vielleicht ist das einfach eine Frage dessen, ob man mag, was man dann sieht und hört... an sich selbst. An anderen vielleicht auch. Wenn nicht, kann das womöglich schon sehr verstörend sein und man kann es in Trubel der Großstadt viel besser überhören und damit leben.
    Lieber Gruß,
    Katja

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    1. Oh, das haben wir von dir im Gespräch direkt aufgegriffen und weitergesponnen: ob STadt nicht auch einem Rausch gleichkommt. Und wie von allem, was berauscht, kommmt man nicht so leicht bis gar nicht wieder weg. Du hast schon recht: man muß sich in der Stille auch aushalten können. Man kommt damit auch automatisch seinem Bodensatz näher (oder konzentriert sich zum Ablenken auf das Leben anderer - das findet sich auf dem Land auch gerne...).

      Vielleicht wenn dein Lütte flügge ist, öffnet sich für dich dein Zeitfenster für das Landleben. Das Nest wird er irgendwann auf jeden Fall verlassen - und ich bin gewiß: von zuhause aus gut gerüstet ;)
      liebe Grüße zurück

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  8. sehr interessantes posting. danke dafür.
    ich habe keinen führerschein und kann mir -nicht nur deswegen- ein leben auf dem lande nicht vorstellen. ich brauche theater, museen, kino, lokale, und das nicht nur einmal die woche oder gar noch seltener.
    trotzdem liebe ich die natur, aber nach unseren urlauben bin ich dann -egal wie schön ich es auch finde- doch immer wieder froh, zurück in der stadt zu sein.
    mein freund ist "auf dem dorf" aufgewachsen, hat erst in wien und dann in berlin gelebt und eine ganz starke sehnsucht wieder ländlicher zu leben. vielleicht hat es wirklich viel mit der herkunft/heimat zu tun. bei den meisten leuten, die ich kenne ist das so, dass es sie nach ausflügen oder auch längeren lebensetappen wieder in die stadt oder eben auf das land zieht, je nachdem wo sie aufwuchsen.

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    1. Du meinst, dass die Entscheidung ob Stadt oder Land hauptsächlich eine Frage der Konditionierung von Kindheit her ist? Das glaube ich nicht. Ich kenne sehr, sehr viele, die eben gerne beides gleichzeitig gerne hätten: Stadt und Land. Mit Ferienwohnung eben meist auf dem Land. Und ich kenne einige, die auf Dauer Landleben als langweilig empfinden. Was daran liegt, dass dich in der Stadt permanent viele Reize umgeben. Auf dem Land hingegen sind die Reize weniger laut - es ist wirklich eine Umstellung der Wahrnehmung. Dann passiert auch hier sehr vie... Aber ja: Chacun à son goût - jedem sein Deckel - auch in der Art und Weise seiner Lebensgestaltung!

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