der Schuh

Donnerstag, 19. Juli 2018


*Wie man's im Hirn hat* grinst der Habib.
*Auf jedem beschissenen TukTuk kleben die Tiger, nur ich bekomme den Aufkleber nirgends aufgetrieben* schimpfe ich. *Dabei sehe ich überall Tiger: auf Shorts, Bikinis, Tunikas, Regenschirmen, Sarongs - überall Tiger* (zugegeben: im Reich der Mode vereinige ich Tiger und Leopard großzügig zu einer Wildkatze).
*Hat man den Hammer in der Hand, ist die Welt voller Nägel* grinst der Habib noch breiter zurück. 
*Wie bei unserer Stadtrundfahrt. Erinnerst du dich?*
Ja, unser Bild von der Sightseeing Bus-Tour durch Paris. Alle gucken durchs Fenster auf Paris, und doch sieht jeder etwas anderes. Zusammen fahren sie durch die gleiche Stadt und doch ist es nie dasselbe Paris. Sie, die frisch Getrennte, sieht nur verliebte Pärchen, er, der seine geschriebenen Postkarten in der Tasche mit sich trägt, sucht nebenher nach Briefkästen und eins weiter hinten träumt die Nächste von ihrem Kleid *gekauft in Paris*, mit dem sie so gerne zuhause groß aufschlagen möchte. Uswusf.

Dabei stolpert mein Blick über einen einzelnen, blauen Kinder-Crock-Schuh mit Spiderman vorne auf der Kappe. Er liegt verloren und einsam auf dem Gehweg. *Zwingt man jetzt schon Kinder in diese abartigen Plastikhufe* denke ich. Und: *Wahrscheinlich einfach vom Fuß des Kindes gerutscht als es auf der Hüfte seiner Mutter/ seines Vaters saß*.
Ich deute auf den Kinderschuh und frage mehr mich selbst als den Habib:
*Siehst du diese einzelnen Schuhe eigentlich auch oder fallen die immer nur mir auf?* Gefühlt könnte ich einen ganzen Tieflader, pfffhhh... Schiffscontainer füllen mit einzelnen Schuhen, die mir seit JAHREN in die Augen springen.  Allein von unseren zig Fahrten zwischen Frankreich und Deutschland die Autobahn hoch: immer die Hälfte eines ehemaligen Schuhpaares - auf der Mittelbahn oder entlang dem Seitenstreifen. *Tssss...* habe ich schon so oft zum Habib gemacht und dabei den Kopf geschüttelt, *wie bitte, sag mir WIE kann man auf der Autobahn einen Schuh verlieren?*

Es durchzuckt mich und ein Gedanke blitzt auf. Als hätte ich auf einen Schlag die zweite Memorie-Karte in der Hand zu einem bestimmten Bild-Set.
*Weißt du, was mir gerade einfällt? Der Traum meiner Mutter. Der Traum, der sich wiederholt, von dem sie weinend aufwacht und den du ihr über mich gedeutet hattest!*


Der Alp, der meine Mutter nachts nötigt, quält so:
In einem kleinen, muffig-stickigem Ziruszelt sitzt meine Mutter neben meinem Vater und beide starren Richtung Manege. Der Zirkus scheint schon bessere Zeiten gesehen zu haben. Schlecht besucht ist übertrieben. Außer meiner Mutter und meinem Vater gibt es überhaupt keine Zuschauer. Und dann diese Aufführung! Der Clown  wiederholt immer den gleichen Nonsense. Wieder und wieder. Immer das gleiche Stück. In Endlosschleife das gleiche Kasperlestheater. Es hört und hört nicht auf. Es ist krotesk. Ein Irrsinn. Nein, es ist schlimmer: es ist unerträglich. Meine Mutter steht abrupt auf. Keine Sekunde länger. Mit ihr mein Vater. Kaum sind sie aus dem Zirkuszelt getreten, ist von meinem Vater keine Spur mehr. Meine Mutter indes weiß genau, wohin sie will. Sie geht direkt zur Bushaltestelle. Wo ihr viel Geduld abverlangt wird. Sie muß lange warten. Sehr lange. Dann, endlich-endlich, kommt der ersehnte Omnibus. Und er ist bis zum Dach gefüllt mit einzelnen Schuhen. Meine Mutter stürzt hinein. Sie wühlt und gräbt, sie pflügt sich durch die Schuh... und wacht schluchzend  auf: ihr zweiter Schuh ist nicht dabei.


Ich schlucke. Meine gesammelten, einzelnen Schuhe. Meine Schuh-Kollekte. Und der Traum meiner Mutter. Es klingt wie das verschachtelte Motiv eines Romans. Aber ich verstehe die Symbolik dahinter - und was uns beide, meine Mutter und mich, verbindet und trennt in der Ausrichtung unseres Lebens...


... zuerst übertitelt mit *Kettenreaktion II* - anknüpfend an *Unbewußte Feuerwehrleiter innerhalb der Familie*

1 Kommentar

  1. Da läuft mir doch glatt ein Schauer über den Rücken bei DIESER Geschichte ... Wunderbar erzählt wie immer.

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