Madagaskar III

Donnerstag, 17. März 2016

Nicht, dass ich sie nicht verstehe. Überhaupt nicht. Auch daran gibts nun wirklich nichts schön zu reden. Die Tatsachen der Geschichte reden für sich: In Afrika haben wir Weiße es uns nach allen Regeln der Kunst verschißen - das haben wir uns Jahrhunderte lang hart erarbeitet. Erst die Sklaverei (gabs je den Versuch der Wiedergutmachung?), dann der Kolonialismus (der ja nun nicht mehr vor Ort sondern auf anderen Ebenen weitergeführt wird), jetzt der Sextourismus (und zwar von der Sorte die Augenkrebs verursacht) - ich wüßte wirklich nicht, warum man als Weißer die Erwartungshaltung haben dürfte, in Afrika noch freudig Willkommen geheißen zu werden. 

Deshalb verstehe ich diese Robin-Hood-Haltung: *ihr habt viel mehr, wir haben nichts - wenn ich dir was wegnehme, merkst du es kaum und mich bringt es durch den Tag*. Hinzu kommt, dass wir Weiße in ärmern Ländern auf Besuch gerne gebend auftreten und großzügig Bonbons oder Buntstifte verteilen, so dass die akkustische Untermalung einer Begegnung schon eine Art von Kulturerscheinung ist: Où est mon cadeau? Das erlebt jeder, der durch Schwarzafrika zieht. Nun dreht sich der Rassismus um.

Madagaskar war sowohl vielerorts Sklaven-Umschlagsort (kennt ihr das Buch *Roots*?) so wie es später von verschiedenen Ländern (zuletzt Frankreich - bis 1958) kolonialisiert, sprich ausgebeutet wurde. Madagaskar zählt zu den ärmsten Ländern der Welt, Forbes listet Madagaskar auf Platz 3 der schlechtesten Volkswirtschaften. Der größte Geldschein dort sind 10 000 Ariary mit einem umgerechneten Wert von ca. 3 Euro, der durchschnittliche Monatsverdienst beträgt etwa 30 Euro, durchschnittlich bekommt jede Frau 5 Kinder, nicht einmal die Hälfte hat Zugang zu sauberem Wasser, ein großer Teil besteht aus Analphabeten und ein Madagasse erreicht ein durchschnittliches Alter von 52 Jahren. Hinzu kommen die extremen klimatischen Bedinungen: ungefähr alle 8 Jahre werden große Teile Madagaskars von einem Zyklon zerstört.

Das sind alles Zahlen. Ganz anders wird es, wenn man da mitten drin steht, mitten in Bildern und Erlebnissen, dem ausgeliefert ist und man sich die Frage stellen muß: *Was hat das mit mir zu tun? Wie gehe ich damit um?* Und es sind dieses Mal weniger die äußeren Ereignisse (der Habib und ich waren ja schon viel unterwegs), sondern viel mehr das, was diese Zeit mit mir machte.

Du kannst dir dort die Flausen direkt aus den Haaren bürsten, dich für einen guten Menschen zu halten. Ansprüche wie empathisch sein zu wollen, verständnisvoll, barmherzig, großzügig, gerecht stellen sich als Theorie heraus. Du kannst dein komplettes Reisebudget direkt am ersten Tag an Bedürftige verteilen und hast dennoch niemand wirklich geholfen. 

Ich habe in aller Deutlichkeit verstanden, dass ich viele Qualitäten, viele Tugenden nur sehr exklusiv leben kann und betrog mich seither mit der Vorstellung, dass es meine generelle Haltung allen Menschen gegenüber wäre. Und es leuchtet mir nun ein, dass ich für solche Adjektive ein entsprechendes Gegenüber benötigte. Das zolle ich meiner eigenen Würde, meiner eigenen Achtung. Sonst geht man unter. Sang und klanglos. Endet vielleicht sogar in der Gosse. Wie das kleine Straßenmädchen in Antananarivo, das einfach im Straßengraben lag. Tot. Und alle sind an ihm vorbeigelaufen, ohne es überhaupt wahrzunehmen, als läge dort nur irgendein verrecktes Tier.

8 Kommentare

  1. Micha, danke, dass du deine Gedanken und Bilder teilst. Ich kann erahnen, wie sehr dich die Reise geprägt haben muss und ich weiß, dass du die Eindrücke (kaum zurück in einem weitaus anderem Alltag) nicht einfach wieder wegschiebst wie so viele Andere sondern sie in Worte fasst, vielleicht auch in Träume, und hinschaust. Mit Achtung, mit Menschlichkeit, mit Feinsinn und Verstand.

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  2. Danke fürs Aufrütteln.
    Danke fürs Zeigen.
    Danke fürs Aussprechen.

    Mir fehlen die Worte!

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  3. ich sag auch danke für deine berührenden Worte!
    Habt ihr nie daran gedacht, den Aufenthalt abzubrechen bzw. konntet ihr ihn überhaupt teilweise genießen?
    lg

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    1. Ich würde lügen, wenn ich abstreiten würde, dass ich nicht mit einer verfrühten Heimreise geliebäugelt hätte. Nur: der Habib ist ein alter Afrika-Reisender - stets alleine auf sich gestellt mit dem Jeep von hier bis zum Äquator. Und dabei kam er auch schon durch Kriegsgebiete im Tschad oder Nigeria - insofern war ich diejenige, die deutlich mehr zu kauen hatte. Und eben vorallem mit der Rückkopplung auf mich selbst, diese Art der Pupertät, in die mich diese Erlebnisse gebracht haben. Aber das ist so wertvoll, dass man dafür auch mal den Hintern zusammenklemmen muß und *durchstehen*.

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  4. Auch von mir vielen Dank für deinen berührenden Post.
    Und auch mir fehlen ein wenig die Worte, wahrscheinlich, weil man sich das gar nicht so recht vorstellen kann, wenn man es nicht erlebt hat.

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  5. Schockierend ...
    Was hat es denn mit dem seltsamen pranger-artigen Teil auf Bild 7 auf sich?

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    1. Ja, darüber wie man Klauen mit derat mittelalterliches Strafverfahren ahnen kann, haben wir auch gestaunt - sehr!

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  6. Liebe Micha,
    die Bilder sind einerseits schockierend und dann wieder betörend schön, besonders das letzte.
    Dein Text macht mich sprachlos. Was ist mit dem toten Kind passiert?
    Grüße Margot

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