was schön war #5

Dienstag, 30. Oktober 2018


*Sascha konnte Bogen spucken und mit beiden Ohren zucken* summe ich innerlich altes deutsches Liedgut aus der schulischen Musikfrüherziehung vor mich hin, während Sascha auf meinen Knien sitzt. Puppenhafte drei Monate alt, mit einer bereits beachtlichen Mähne auf dem Kopf, gewirbelt in einen angedeuteten Seitenscheitel, und Pausbacken mit magnetisch anziehender Wirkung. Es ist nicht zu verbergen, dass ich mich direkt verknallt habe, als Helene, seine Großmutter, ihn mir in die Arme drückte, um auf dem Markt einige Besorgungen zu machen. Halb schläfrig, halb selbstvergnüglich blickt Püppi Sascha in die Welt und ringt allen, die uns passieren, ein Lächeln ab. Nun bin ich ja nicht verrückt auf alle Kinder - schließlich sind auch Babys nichts anderes als Menschen... nur halt im körperlichen Anfangsstadium - aber den hätte ich so wie er ist eingepackt und mitgenommen. Hyper-mignon! Hach, so als Kinderlose mal kurz glucken und Hütetrieb ausleben -  endorphiner-Schluckauf-Modus total und glasklar etwas für den Sampler #was schön war.

Überhaupt mochte ich den Moment mitsamt seiner Szenerie. Wir befinden uns nämlich in einem unserer beiden Lieblingscafés der Drôme: zwei historische Kreuzgewölbe, die Renovierung der Räume stagniert halbgar, mit neuer (noch Rigips umplatteter) Sitz-Toilette, jawohl, wobei die vorherhige weiterhin bestehen bleibt: drei sich drehende Stufen führen vorbei an einem kleinen Waschbecken zu dem erhöht liegenden, winzigen Plumpsklo. Ein Hauch von Improvisation umweht ebenso die selbstgeschmiedete Theke.

Betritt man das Café, hängt links (leicht schief - was solls...) ein Kunstdruck. In Aquarell sieht man einen schwermütigen Tim auf einem Barhocker mit seinem Struppi zu Füßen. Darüber zeigt eine runde, einfache Uhr mit spiegelverkehrtem Ziffernblatt die aktuelle Stunde an. Dafür drehen ihre Zeiger gegen den Uhrzeigersinn. Der Wirt - fast so groß wie rund und von ausgeglichenem Naturell - sammelt leidenschaftlich Comics und wäre prädestiniert für eine Professur in diesem Bereich. Unzählige Hefte, ja ganze Serien, füllen die vielen Regale. Wenn er etwas erzählt, dann baut er sich gerne auf wie ein kleiner Junge, der - Achtung, Achtung - etwas zu verkünden hat. Als Aushilfe vertritt ihn manchmal eine wunderschöne Mulattin mit finsterer Mine. An den wenigen guten Tagen umweht die Andeutung eines Lächelns ihre Mundwinkel, wenn sie *Bonjour* sagt.

Wie ich so über das Café schreibe, wird mir erst bewußt: es  könnte direkt einem John Irving-Roman entsprungen sein. Dieser Hauch Groteske in unbeschönigtem aber warmen Realismus. Dieses Publikum! Diese Mischung! Es klingt wie erfunden.

An der Bar sitzt ein Araber mit sinnlichem Mund, der Djembé unterrichtet. Dann kommt ein Rastafari mit dicken Zöpfen bis zu den Kniekehlen (die möglicherweise Mikroorganismen beherbergen) und der bei allen Fragen zur Elektrik zu Rate gezogen wird. Hinten in der Ecke kauert auf ihrem Stammplatz die weintrinkende Bettlerin, ausgemerkelt mit schlechtem Teint. Ihre Krücke lehnt hinter ihr an der Wand. Doch ihre Aufmachung verrät, dass sie die Hoffnung auf Begegnung nicht aufgegeben hat: die Haare geföhnt, ein femininer Rock, etwas Rouge.

Vom ebenso kleinen Barbier- und Friseurladen schräg gegenüber trinkt der Coiffeur mit italienischen Wurzeln seinen Café. Altersbedingt müsste er schon längst in Rente sein. Er trägt einen völlig aus der Mode gekommenen Arbeitskittel, der möglicherweise nie in Mode war. Sein Händedruck ist einzigartig: angenehm zart und fest in einem. Dann ist da noch der Engländer mit der futuristischen Beinprothese, bei dem man genau hinhören muss, wenn er redet: es klingt nach englisch, aber es sind französische Vokabeln. Etwas weiter der Fonctionnaire, äußerst gepflegt, wenn er lacht, dann kleppert seine Kehle abwärts über kleine hölzerne Bodenwellen. Die Zeitung des Cafés ist immer bei ihm auf dem Tisch zu suchen..

Nicht zu vergessen: Helene - eine Erscheinung! Ich nehme sie immer sofort wahr, obwohl sie von zierlicher Gestalt ist. Ihren Kleidungsstil bewundere ich: eigenwillig, selbstverständlich, schlicht, ungewöhnlich. So wie sie - er unterstreicht ihre freiheitsliebende Künsterseele, ihren Schöngeist. Gerne würde ich so altern wie Helene, mit dieser Ausstrahlung. Sascha, ihr Enkelsohn, passt wunderbar zu ihr.

Das Café bietet wenig Raum, am Markttag findet man oft nur schwer einen Platz, aber es wird zum Treffpunkt unterschiedlichster Menschen, für die das Mit-und Nebeneinander so selbstverständlich ist, dass es weder auffallend noch nennenswert erscheint. Eine Welt in der Welt...


12 Kommentare

  1. Im ersten Moment hätte ich mir Fotos all dieser Persönlichkeiten gewünscht (geht natürlich nicht!!) aber halt, nein, die Fantasie ist eben doch am besten! So liebevoll, kurzweilig und genau sind die Menschen beschrieben, dass man alle und diesen Ort mögen muss. Liebe Grüsse, Miuh

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    1. Wäre es rein nach mir gegangen, liebe FRau Miuh, dann hätte ich am liebsten eine Galerie eben dieser Menschen zusammengestellt - weil Bilder eben nochmals mehr sagen als alle Worte... aber ja, leiderleider - und am Ende müßte ich sonst wegziehen, wie der eine englische Schriftsteller, der über das französische Dorf ein Buch schrieb, in dem er lebte (wie hieß er doch?) liebe Grüße zurück und herzlichen Dank für den freundlichen Kommentar!

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  2. Was für wunderschöne Beschreibungen. Sehe das Café direkt vor mir. Hört sich an wie der Beginn eines schönen Buches.... hab einen schönen Tag hoffentlich ohne Schnee. Liebe Grüße, Dagmar

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    1. Oh, was ein hübsches Kompliment, Dagmar, eine fast zu große Schmeichelei um sie wirklich glauben zu können. Oder wie meine *Anne of Green Gables* in eben dieser Serie: *Wenn jemand etwas hässliches zu mir sagt, fällt es mir leichter, es zu glauben.*

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  3. >Sehe das Café direkt vor mir. - GENAU - Wann schreibst Du endlich ein Buch ? ich bestell mir schon ein Exemplar !
    Liebe Grüße aus Wien
    Axel

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    1. Mit mehr Zeit hättet ihr dort einen café trinken müssen und dieses Exemplar hätte sich komplett erübrigt ;) babba zurück..

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    2. :-) so hat es sich dann nicht erübrigt ;-) und ich werde es 'dann' mal lesen wenn wir wieder mal da sind auch auch dieses Café besuchen :-)
      und ein PS: der Obelix Globus gefällt mir schon sehr - immer wieder begeisternd was Menschen sich ausdenken - Supa!

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  4. Welch eine Beschreibung! Man braucht kein Foto, alle sieht man vor sich, als wäre man mitten unter ihnen. Toll. Sie sollten wirklich schreiben UND veröffentlichen. Herzlich et avec bises, Sunni

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    1. Ein ausgesprochen zauberhaftes Kompliment, liebe Sunni! Ich bin immernoch am Überlegen, wie ich darauf reagieren soll. Es erscheint mir zu viel der Ehre, aber freuen tue ich mich trotzdem... herzliche Grüße zurück

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  5. Auch vor meinem Auge entstehen sofort Bilder und Gerüche (vor meiner Nase)... ich würde die Fortsetzung als Roman sicher gerne mögen.
    Liebe Grüße von Hannah

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    1. Weder steht ein Buch an, noch ist ein Ende der Bloggerei in Sicht... donc: es wird wohl hier eine Fortsetzung geben ;-) liebe Grüße gen Süddeutschland...

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  6. Oh was für eine lebendige Beschreibung! Einmal kurz abtauchen in die Fantasie-Welt und ich fühle mich fast vor Ort, den warmen Kaafee und die ausgelesene Zeitung vor mir! Wunderbar!
    Viele liebe Grüße!
    Alexandra

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