zu Tisch mit # 11 - AT und JA

Mittwoch, 17. Juni 2020


Für diese Rubrik kommt mir zupass, dass ich mich bereits als Kind gerne in meine eigene Welt geflüchtet und zurückgezogen habe. *Erschöpfe dich nicht in Phantasien* - definitiv ein einst an mich gerichteter Warnhinweis. Selbst wenn der fliegende Teppich der Phantasie die billigste Art des Reisens ist, so kommt man doch immer nur in Wolkenkuckucksheim heraus. Wie habe ich vor Kurzem so treffend gelesen: *Reisen bedeutet Phantasie gegen Erfahrung auszutauschen.* Nichts, rein gar nichts toppt eigenes Erleben!

Während der Jahre, die ich in der Stadt gelebt und in der Kulturszene gearbeitet habe, schätzte ich als wunderbaren Nebeneffekt am Künstlertum die Freiheit, die dir auf diese Weise von der Gesellschaft zugebilligt wird. Du darfst dich als Künstler anders anziehen, ausdrücken, Dinge aussprechen, gegen gängigen Habitus verstoßen uswusf. - das wird dir alles nachgesehen: Du bist schließlich Künstler (und ein Großteil deines Umfeldes meistens auch). Diesen Umstand habe ich sehr geschätzt und gerne für mich in großen Weiten ausgelotet.

Zu meinem 11. Gäste-Tisch habe ich mir zwei Frauen in etwa meinem Alter ausgesucht. Was beide eint ist, dass sie mir vom Typ gut gefallen: beide wirken burschikos ohne dadurch etwas von ihrer Weiblichkeit einzubüßen. Beide sind nicht nach gängigem Schönheitsideal hübsch, haben auf mich aber eine anziehende Ausstrahlung, weil von ihnen etwas Gerades, Ungeschminktes ausgeht.

Als erstes begrüße ich Anna Thalbach, die ich mehr als Künstlerin denn als Schauspielerin wahrnehme. Ihr ganzes Wesen dünstet Freigeist aus. Und jedes Interview mit ihr legt Zeugnis ab, dass sie sich eigenen Werten und Maximen unterordnet - und keinen vorgegebenen. Als ich noch gerne Shopping-Queen schaute (Tisch #1 - was sich mit der Zeit abnutzt und selbst Guido Maria hat mittlerweile - wohl ob der Frequenz - an Elan eingebüßt), war die Folge mit Anna eine der lustigsten und vor allem kreativsten ever. Anna entspringt schließlich einer ganzen Künstlerdynastie von Familie - was nicht zu verbergen ist!

Wer künstlerisch arbeiten will, braucht sogar diesen gewissen Abstand zur Gesellschaft - so erst wird kritische Distanz möglich. Anna formuliert ihre kritische Meinung ganz unmissverständlich. Und allein deshalb bin ich schon verknallt in sie. Anna sagt: Das ist wie beim Monopoly-Spiel – das ist zu Ende, wenn einer alles hat und die anderen nichts. Ich glaube nicht an den Kapitalismus und lebe nicht gerne in diesem System - auch ohne deshalb Antworten griffbereit aus dem Hosensack ziehen zu können. Mir dünkt es so, als entkäme man nicht dieser endlosen Hauptmann von Köpenik-Mühle - nix hat sich geändert, es wird lediglich raffinierter.

Anna prangert als Berlinerin an, dass sich an Wohnraum vergriffen wird, so dass  Rentner gezwungen seien, mehr als die Hälfte ihrer Rente für Miete zu bezahlen. Das nennt sie *ein Verbrechen an der Menschlichkeit.* Auch Medizin sei ein Geschäft und in die Würste werde Müll gequetscht, damit man am Essen verdiene. *Wenn der Kapitalismus sich da dran vergreift – tut mir leid, dann finde ich jeden, der das System noch gut findet, einfach nur bescheuert.*

Sehr erheiterte mich Annas folgende Aussage, denn auch nach meiner Wahrnehmung eignen sich die meisten Beamte und Banker als ideale Besetzungen für Momos Erwerbstätige in der Zeitsparkasse. *Ich sehe bei den Politikern niemanden, der mitfühlend, kreativ wäre oder Lösungen anzubieten hätte. Auch ich habe leider keine Antwort darauf, wie die Menschen sich ordnen können, sodass die Moral gegen die Gier gewinnt. Ich kenne keinen, den ich gut finde. In der Politik werden alle grau, die sehen aus wie Büro-Trutschen. Das wäre sicher nicht die Herde, der ich folgen würde, wenn ich die Wahl hätte.*

An dieser Stelle hole ich meine zweite Gästin dazu: Jacinda Ardern! Oder?! Die hält doch mit ihrem Strahlelachen volle dagegen. Ein kleines Vorstellungsfilmchen gefällig? Vielleicht könnte man behaupten, dass Jacinda die menschlichste Form des Kapitalismus darstellt - weil sie ihn konsequent verbindet mit dem Begriff *kindness*. Sich selbst hat sie den sperrigen Zusatztitel "Ministerin für Kinderarmutsreduktion" gegeben. Mich sprechen ja sehr ihre Selbstzweifel an. So offenbart Jacinda in Interviews ganz ungeschönt ihre Unsicherheit, ob sie für eine solche Spitzenposition in der Politik überhaupt geeignet sei: *Ich mache mir ständig Sorgen, einen Fehler zu machen. Ich hasse es, Menschen zu enttäuschen.* Das ist eine Aussage, die ich den wenigsten Politikschaffenden so abnehmen würde. Ihr glaube ich. Ebenso nehme ich ihr ab, dass es sie nicht nach Macht und Einfluß dürstete: *In gewisser Weise frage ich mich, wieviel Zufall im Spiel war, dass ich jetzt hier sitze, denn ich hatte nie das Ziel, eines Tages Premierministerin zu werden. Deshalb verspürte ich auch nie diesen Druck, mich entsprechend profilieren zu müssen. Ich war immer nur ich selbst.*

Und anscheinend halten andere Jacinda gleichfalls für glaubhaft, denn ja da ist sie wieder die Vertrauensfrage - in Zeiten wie diesen die erste aller Gretchenfragen. Obwohl Neuseeland einen besonder harten Lockdown fuhr, stand eine erstaunliche Mehrzahl der Bevölkerung hinter ihrer Führung. Das kann nur damit zusammenhängen, dass Jacinda ihrem Volk Beispiel lebte. Für sie bedeutete ihre ständig wiederholte Aussage *be kind* (sei ein guter Mensch) während dem Lockdown ihr eigenes Gehalt um 20 Prozent zu reduzieren. Viele müssen gerade den Gürtel enger schnallen - sie dann auch. Tja, und der Erfolg gibt ihr recht: Neuseeland erklärt Covid für überwunden. Privat scheint sie sich obendrein den richtigen Vater für ihre Tochter (die sie by the wy während ihrer Regentschaft bekam) mit Clarke Gayford rausgesucht zu haben. Wie cool ist bitte sein Tweed: *
at what age is it unacceptable to run naked under a hose on the back lawn?

Ich bin mir sicher, wir Mädels würden uns gut verstehen. In meiner Vorstellung von diesem Treffen würden wir uns am Tisch einige Zeit um das Thema drehen, ob ein eigentlich unmenschliches System (der Kapitalismus bzw. Neoliberalismus) dennoch menschenfreundlich umgesetzt werden kann. Also ganz nach dem alten *Beachte das Was, mehr beachte das Wie*-Goethe-Zitat. Denn Jacinda hat - ebenfalls wie Anna - eigene Wertvorstellungen, die sie wohl seit sie Politikschaffende ist, noch nicht über Board geworfen hat: *Ich entschied  [während meine Kandidatur] , dass wir, anstatt uns nur darauf zu konzentrieren, was alles falsch gelaufen sei, positiv nach vorne schauen müssen, mit einer wirklich klaren Vision, wie wir die Dinge ändern können und wir es schaffen können, wieder Stolz auf all das zu sein, was uns wichtig ist – und das umfasst ganz Grundlegendes: Wohnungen, die Umwelt, das Wohlergehen unserer Kinder.

Nun, die Zukunft wird es zeigen. *Die Wahrheit einer Absicht ist die Tat*, sagt Hegel. Im Fall von Neuseeland wird man möglicherweise sehen können, was stärker ist: der politische Wille einzelner oder das System...

Was würde ich für diese Runde kochen? Ganz klar eine unkomplizierte französische Tarte wie diese hier und einen Salat dazu.


1 Kommentar

  1. Die Thalbachs! Immer gerne gesehen und auch zuhören, was sie zu sagen haben, lohnt sich. Immer und ausnahmslos.

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