Einsamkeit: Eierschecke

Freitag, 7. Februar 2020


*Wie oft wirst du gesehen
aus stillen Fenstern,
von denen du nichts weißt.

Durch wieviel Menschengeist
magst du gespenstern,
nur so im Gehen.*
(Christian Morgenstern)

... das stand in dem Fensterbogen meines Zimmers, von wo ich oft stundenlang auf den kleinen Platz vor dem Haus blickte und das Geschehen beobachtete. Das Morgenstern-Gedicht steht stellvertretend für eine der einsamsten Epochen meines Lebens. Auf einen Schlag hatten sämtliche Mädels meiner Gang einen Freund, nur ich hatte verpasst mich synchron mitzuverlieben. Es gab Wochenenden, an denen ich nicht ein einziges Wort sprach und froh war, wenn ich montags endlich wieder arbeiten gehen konnte. Niemand braucht mir erklären, wie engmaschig Einsamkeit, Traurigkeit, Antriebslosigkeit, Resignation und Depression miteinander verbunden sind.

Die meisten kennen diese Gefühlslage wohl als Phase ihres Lebens. Es kann jeden irgendwann treffen. Dabei bestätigen Studien nicht nur, dass sich zunehmend Menschen in Deutschland einsam fühlen, sie zeigen gleichfalls, dass es Großstädter genauso wie Landbevölkerung betrifft, alt wie jung, egal wie gestanden, Status unabhängig. Es kommt nur auf den entsprechenden Schicksalsschlag an. Und manchmal scheint es mir, als hinge es nur an wenigen Zufällen, ob man von dort aus tiefer und tiefer in die Dunkelheit rutscht. 

Ich komme darauf, weil zwei Menschen in unserer Peripherie mit diesem Zustand kämpfen. Beide sind bereits älter und beide eigentlich jeweils eingebunden in Familien. Und dennoch einsam. Claire hat gerade den plötzlichen Tod ihres Mannes zu verkraften, während ihre Tochter mit dem alltäglichen Leben samt Kleinkinder ausgelastet ist - bei unmittelbarer Nachbarschaft. Und Alain ist ein guter Bekannter aus unserem John-Irving-Café, der gar noch arbeiten geht, sogar zusammen mit seinen Söhnen, und trotzdem kann man zusehen, wie ihn der Lebensmut verlässt und er weniger und weniger  und blasser und blasser wird.

Bei der Gelegenheit fiel mir auf, wie wenig Möglichkeiten es im ländlichen Frankreich gibt, sich regelmäßig unter Menschen zu mischen. Die Kirche hat seit der französischen Revolution nahezu an Bedeutung verloren. Wobei sich gerade in Momenten der Einsamkeit zeigt, dass diese (und/ oder der Glaube) vielen Stütze bietet - siehe sehr schön im Dlf-Artikel: Im Sog der Einsamkeit. Das Franko-Pendant zum deutschen Vereinswesen - aka Musikverein, Sportverein, Gesangsverein ectpp - spielt in unserer Gegend eine kleine Rolle. Bon, klar, die Jagd - aber die ist nix für jedermann und nachwievor eine Männerdomäne. Die einst so beliebten und nicht wegzudenkende Boule-Plätze, die jedes Dorf in seiner Mitte beheimatete und tpyisches, südfranzösisches Flair verbreiten, zeugen von einem Zeitwandel: die wenigsten werden noch (regelmäßig) bespielt und einige sind bereits zu Parkplätzen umstrukturiert.

Wie grandios haben wir da China in Erinnerung! In den öffentlichen Parks und Plätzen finden sich ständig zu den unterschiedlichsten Betätigungen Menschen zusammen: von Standart-Tänzen über Schach-, Brett- und Kartenspiele, Aerobic-Stunden oder Tai-Chi-Gruppe, Chöre, Kaligraphie-Künstler, Sticken... - das Angebot an Beschäftigungen hätte nicht vielfältiger sein können. Und wie toll ist es, wenn sich dieser Gemeinschaftssinn derart kulturell verwurzelt hat, dass sich die Menschen auf diese Weise ganz selbstverständlich - und ohne etwas zu bezahlen - treffen und begegnen könnten. Mag sein, dass es eine (vergehende) Nische ist im arbeitswütigen China, aber eine, die mir sehr gut gefallen hat.

Gut, selbst derartige Institutionen sind kein zwingendes Heilmittel. Mich beschleicht eh der Eindruck, dass neben der typischen Einsamkeit als menschliche Regung der Neoliberalismus und das Zeitalter der Digitalisierung eine neue Form hervorbringt: die der universellen Einsamkeit. Das Individuum, das als Einzelwesen einem größeren, sich weiter öffnendem (Welt)Raum alleine gegenübersteht. Die weltweite Interaktion zwischen Menschen hätte sich meine Großeltern-Generation kaum vorstellen können - für die war Telefon schon fancy.

Byung-Chul Han beleuchtet in seiner *Müdigkeitsgesellschaft (2010) die Kehrseite einer Leistungs- und Aktivgesellschaft, denn sie bringt zwangsläufig eine extreme Müdigkeit und Erschöpfung hervor. Und seltsamste Blüten treibt die Einsamkeit in Japan, wo man sich in Ermangelung an echten Beziehungen Familien, Freunde oder Lebenspartner einfach leihen kann. Das darf wohl befremden.

Nachdem es international als erwiesen gilt, dass Einsamkeit Stress verursacht, der zu Krankheiten wie Depression, Blutdruck, Demenz und einem früheren Tod führen kann, sieht selbst die Politik Handlungsbedarf. Großbritannien hatte 2018 die erste Einsamkeitsministerin in Europa berufen (die somit wieder arbeitslos sein dürfte) und die Bundesregierung nahm das Thema in den Koalitionsvertrag auf: *Angesichts einer zunehmend individualisierten, mobilen und digitalen Gesellschaft werden wir Strategien und Konzepte entwickeln, die Einsamkeit in allen Altersgruppen vorbeugen und Vereinsamung bekämpfen.*

Aber wie soll das gehen? Man kann selbst in Beziehung einsam sein, weil Nähe, Austausch und Verständnis fehlen. Bittere Wahrheit ist: tiefe Verbundenheit zwischen zwei Menschen ist weder Selbstverständlichkeit noch die Regel, sondern die wundersame Ausnahme. Ansonsten gilt:

*Und wenn wir wieder von der Einsamkeit reden, so wird immer klarer, dass das im Grunde nichts ist, was man wählen oder lassen kann. Wir sind einsam. Mann kann sich darüber täuschen und tun, als wäre es nicht so. Das ist alles. Wieviel besser ist es aber, einzusehen, dass wir es sind, ja geradzu, davon auszugehen.* (Rilke)


Einen Großteil dieses Kuchens, der heute vorgestellen Eierschecke, bekam Claire - als kleine nachbarschaftliche Geste des Mitfühlens. Für mich einer dieser Kuchen, die meine Gelüste im Frühjahr sehr entgegenkommen - siehe etwa auch diese Schnitten. Was die Kombi Mohn-Quark-Obst-Streusel angeht, behält dieser Kuchen allerdings eindeutig die Nase vorn, denn der toppt noch mit zusätzlicher Nuss - an dem kommt so schnell wohl keiner vorbei.

Zutaten - eine Kuchenform 26cm Durchmesser:

Füllung:
1 Päckchen Vanille-Pudding
50g
200g Milch
30g gemahlener Mohn
2 EL Zucker

Teig/ Boden:
100g Milch, lauwarm
10g Hefe
30g Butter, weich
30g Zucker
1 Eigelb
1 Pr Salz
200g Mehl

Streusel:
40g Butter, weich
30g Mehl
40g gemahlene Mandeln
20g gehackte (oder gehobelte Mandeln)
40g Zucker
(m: 1/2 TL Sugar Spice)

Füllung:
500g Magerquark, im Sieb abgetropft
2 Eier
100g Zucker (m: 50g)
1 Pr Salz
1 TL abgeriebene Zitronen-Schale
400g Obst (m: Karamell-Birnen)*

Zubereitung:

Als Teil der Füllung das Vanillepuddingpulver in 50 ml Milch verrühren.
 Die restlichen Zutaten miteinander aufkochen. Vom Herd ziehen, das vorbereitete Puddingpulver klümpchenfrei einrühren und kurz nochmals kochen lassen. Abdecken und abkühlen lassen

Für den Boden Milch mit Zucker und Hefe verrühren. Das Mehl, das Eigelb und die Prise Salz zufügen und mit Hilfe einer Küchenmaschine einen glatten Teig verkneten, der sich beginnt vom Schüsselrand zu lösen. Schüssel abdecken und an einem kuscheligen Platz ca. 1 Stunde gehen lassen.

Für die Streusel alle Zutaten miteinander per Hand oder mt einer Gabel verkneten und kalt stellen.

Nun die Füllung fertig zubereiten. Den abgetropften Quark mit 2 Eiern, der Zitronenschale, dem Zucker und dem Salz verrühren. Dann den Mohn-Pudding mit dem Handrührgerät schön glatt unterziehen.

Die Springform leicht buttern und den Hefeteig mit dem Fingern vorsichtig auf dem Boden in Form bringen. Nochmals 20min gehen lassen.
Backofen auf 185° (O/U-Hitze) vorheizen.

Das Obst der Wahl - abgetropfte Schattenmorellen, eine Beerenmischung, ein nicht zu feuchtes, stückiges Apfel-Kompott - vorbereiten.

Quarkmasse auf dem Hefeboden verteilen und glatt streichen, erst Obst dann Streusel darüber verteilen und den Kuchen auf der untersten Schiene des Ofens ca. 60 bis 70min golden backen (m: die letzten 15 min auf die 2.Schiene von unten wechseln). Die Schecke mindestens 4 Stunden ruhen lassen.

*Anmerkung m: die Karamell-Birnen waren sensationell - dringender Hinweis an mich selbst, die kommende Saison wieder einzuwecken.



6 Kommentare

  1. Ach Micha, ich hätte gern ein Stück Kuchen mit euch gegessen. Auch gegen die Einsamkeit. Ich kenne nämlich noch einen Grund: Krankheit. Die macht einsam, besonders, wenn sie einen Namen trägt, der den Teufel als Createur vermuten lässt. Einsam, sehr einsam. Erst bröckelt es langsam, dann schneller und irgendwann merkt man: Das Letzte, das neben der Zweisamkeit bleibt, die natürlich in solchen Krankheitslagen auch Probleme mit sich bringt für beide Beteiligte, sind die medialen Freundschaften und gute, aufbauende Ärzte. Dazu kommt, falls man sich noch aufrafft, so wie wir es heute wieder taten, dass man raus muss, raus, in die Welt. Ferne geht nicht mehr, aber Fahrten zu Kunstausstellungen (heute), Konzerten, Theater, Kaffeetrinken an einem schönen Ort...Das bleibt, neben dem Dunkel, in das man sinkt und sich nur selbst daraus befreien kann. Oder ein Stück Kuchen zur rechten Zeit, auch das hilft (Halt den Mund, Diabetes!) Herzlich, Sunni

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    1. Was gibt es nicht alles an Situationen und Ereignissen, Sunni, die das Gefühl der Einsamkeit verstärken können. Etwa keinen Alkohol zu trinken - auch ein prima Beispiel ;-)

      Aber was ich eigentlich rausstellen wollte, ist, dass das Individuum *per se* - wie der Name schon sagt, einsam ist. Und der *Makel* Einsamkeit somit kein Makel ist - wenngleich er so wahrgenommen und empfunden wird.

      schönes Wochenende euch!

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  2. Ich hatte das schon verstanden, liebe Micha, aber was ich zeigen wollte, ist, dass es durch solche von anderen herbeigeführte Situationen natürlich zur Verstärkung des Gefühles kommt, das dann eine noch tiefere seelische Wirkung zeitigt. Ja, auch keinen Alkohol trinken macht einsam, auch da kann ich mitreden...

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  3. Mit Sunnis Erlaubnis darf ich ihre Gedanken auch hier veröffentlichen und mit euch allen teilen:


    Einsamkeit und Alleinsein


    Jeder Mensch ist ein einsamer Mensch. Natürlich ist das kein Makel, sondern ein Faktum. Wäre er es nicht, dann hätte er von Grund auf einen Gefährten, eine Gefährtin, wäre also zweisam. Daher auch der Begriff der Zweisamkeit für Menschen, die sich, aus welchen Gründen, zusammen gehörig fühlen. Einsamkeit hat aber auch eine zweite, mentale Ebene, die nicht den Fakt an sich, sondern eine Gefühlslage ausdrückt, nämlich die des Alleinseins, also sozusagen des negativen Effektes, den Einsamkeit ebenso erzeugen kann wie einen euphorischen Zustand im Sinne von „ich, allein, bin genug und völlig ausreichend“.

    Eine Vielzahl von Empfindungen, von Situationen, in die wir gewählt oder ungewählt, gelangen, ändern die Sichtweise auf den Begriff des Einsamen. Teilweise können wir diese beeinflussen, teilweise eben werden sie uns von außen oktruiert, wir sind ihnen ausgesetzt. Unsere Psyche entscheidet dann - sozusagen für uns -, ob wir diese momentane oder länger anhaltende Situation positiv oder negativ sehen.

    Dass eine anhaltende negative Sicht, bedingt durch eine Vielzahl von Umständen, unzweifelhaft zu psychischen und physischen Beschwerden führen kann, ist unbestritten. Gleichermaßen leitet uns eine positive Sichtweise („Zum Glück kann ich allein entscheiden, ich bin nicht auf andere, wen auch immer, angewiesen in meiner Empfindung, Meinung, den resultierenden Geschehnissen“) zu dem Gefühl von Sicherheit oder/und Ruhe.

    Ein Makel ist der Begriff des einsam Seins in keinem der beiden Fälle, wie unsere situativ bedingten Eindrücke nie einen Makel an sich erzeugen. Ihre Auswirkung jedoch auf unser Tun kann sehr wohl einen Makel für uns bedeuten, indem sie Unsicherheiten, Traurigkeit und Depressivität entwickeln. Dies gilt jedoch nur, wenn ich diese Schritte ebenfalls als Makel und nicht als normalen Teil meines Lebens empfinde. Ob und wann ich wie reagiere, hängt wiederum von den Umständen und der Verfassung ab, in der ich mich zu den entsprechenden Zeiträumen befinde. So kann ich in einer positiven Phase meines Lebens Alleinsein als Segen, in einer Krankheitsphase als zusätzliches Leid empfinden. Ein- sam an sich bleibe ich, ob ich will oder nicht, als Individuum. Dagegen kann ich als Mensch nichts tun. So werde ich geboren, und ich werde so sterben.

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  4. https://www.youtube.com/watch?v=7Wvc1KBFCI4
    Passend dazu - hoffe der Link klappt - Reinhard Meys "Allein"

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  5. ... und natürlich "musste" ich diesen Kuchen nachbacken. Wie immer habe ich Dinkel-Vollkornmehl verwendet und muss aber einräumen, dass er in der Weißmehl Variante wahrscheinlich zum einen hübscher aussieht, zum anderen das irgendwie besser zum Hefeteig passt. Als Obst hatte ich Sauerkirschen aus dem Glas und würde empfehlen bei der Verwendung von ungesüßtem Obst (die Karamell Birnen haben ja schon eine Süße) die Zuckermenge doch ein wenig zu erhöhen (und wir sind durchaus nicht so süß gewohnt). Alles in allem aber ein sehr leckerer Kuchen, der mal wieder beweist, dass manche Kombis einfach Erfolg versprechend sind. Herzlich, Hannah

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